Proyecto Memoria/Genova 2001 - Interview mit Karsten/Bochum

Genova 19.07.2001 - Karsten und seine FreundInnen

- chi non ha memoria non ha futuro -

Im Juni diesen Jahres sprachen wir mit Karsten über seine Erfahrungen mit der Repression in Genova 2001. Er war zusammen mit weiteren Deutschen sechs Wochen im genuesischen Gefängnis Marassi inhaftiert und wurde von der italienischen Justiz mit schweren Vorwürfen konfrontiert. Karsten kommt aus Bochum, lebt zur Zeit aber in Berlin.

 

Azzoncao: Ciao, Karsten. Du warst ja 2001 auch in Genova, um gegen den G8-Gipfel zu demonstrieren. Damals bist du im Anschluss an diese Tage verhaftet worden. Bitte erzähl uns über die Repression die du damals erlebt hast.

 

Karsten: Für uns war es sehr überraschend, mit welcher Härte die DemonstrantInnen damals in Genova konfrontiert wurden. Wir waren dann selbst davon betroffen und das in einem Moment, der für uns noch überraschender war. Wir waren nämlich schon aus der Stadt abgereist. Und zwar am 22.Juli, am Sonntag, dem ersten Tag nach den Protesten.

Wir waren zu zehnt mit zwei Wohnmobilen unterwegs. Ca. 40 Kilometer außerhalb von Genova haben wir angehalten und in den Wohnmobilen übernachtet, etwas abseits der Landstraße.

Am nächsten Morgen standen Carabinieri vor unseren Wägen und haben uns kontrolliert. Es wurde aber schnell klar, dass es hier nicht um das wilde Campen ging, sondern um das G8-Treffen in Genova.

Sie begannen unsere Autos zu durchsuchen und pflückten unser Gepäck nach diversen Kriterien auseinander. So landete z.B. aus dem Werkzeugkasten alles ab dem 23iger Schlüssel, sowie auch schwarze Kleidungsstück auf dem Beschlagnahmehaufen.

Erst war es ein Carabinierefahrzeug, dann zwei. Schließlich kamen Zivilpolizisten dazu und der Ton verschärfte sich. Sie teilten uns mit, dass wir mit ihnen zur Polizeistation fahren müssten. Wir durften unsere eigenen Fahrzeuge bewegen und mussten im Konvoi nach Santa Margarita fahren, einer kleinen Stadt außerhalb von Genova.

Dort sind wir dann verhört worden. Alle zusammen in einem Raum. Dieses Verhör wurde mit Schlägen von Polizeiknüppeln und Tritten geführt.

Wie in Deutschland wollten wir von unserem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch machen. Uns wurde daraufhin mitgeteilt, dass Italien jetzt ein faschistisches Land sei und man hätte auf eine Frage eines Polizeibeamten zu antworten, ansonsten würde man geschlagen. So war es dann auch!

 

Azzoncao: Wie wurdet ihr befragt? Auf Englisch?

 

Karsten: Auf Englisch. Als sie begannen uns zu schlagen, bestanden wir auf einen Anwalt und sprachen von dem Moment an kein Wort mehr mit den Polizisten. Einen Dolmetscher haben sie nicht zugezogen.

Nach mehreren Stunden Verhör wurden wir nach Genova gefahren. Wir Männer wurden nach Marassi gebracht, ein Gefängnis, das in einem gleichnamigen Stadtteil von Genova liegt. Man muss wissen, dass dieses Gefängnis während der Demonstrationen am Freitag angegriffen worden ist.

Die Situation war sehr unangenehm für uns, … es ist schwierig darüber zu reden, da sich all die Ereignisse aus der Distanz heute etwas anders darstellen, als sie damals für uns waren..., aus der Situation von heute gehe ich jedenfalls davon aus, dass die Gefängniswärter ihre persönliche Rache an uns nehmen wollten. Damals sind wir von diesem Umstand nicht ausgegangen und es stellte sich sehr bedrohlich und systematisch dar - wir hatten ja auch mitbekommen, was in der Scuola Diaz passiert ist. Ausserdem hatten wir am Freitag und am Samstag gesehen, wie die Polizisten „ausgeklinkt“ sind. Mich hat es gewundert, dass es während der Proteste nicht noch mehr Tote gegeben hat als Carlo Giuliani.

Bei der Aufnahme im Knast wurden wir geschlagen. Bei der Abgabe unserer persönlichen Gegenstände wurden wir geschlagen. Ich war hierbei mit drei bis vier Beamten allein in einem Raum. Ich musste mich nackt ausziehen und wurde verhöhnt. Jeder von uns hat eine andere Geschichte von diesen „Aufnahmeformalitäten“ zu erzählen. Mir haben sie die Beine „weggezogen“. Und als ich dann nackt am Boden lag, haben sie mich zusammen getreten. Sie versuchten mich danach dazu zu zwingen, mich vor der Wand hinzu knien, mit den Händen auf dem Rücken. Ich weigerte mich, da ich davon ausging, dass sie mich von hinten gegen die Wand treten würden, um mir die Nase zu brechen. Daraufhin wurde ich noch mehr getreten. Das alles dauerte an. Ich war froh, dass ich keine Ohrringe mehr trug. Die wären mir mit Gewalt raus gerissen worden. Einer der Wärter zog meine langen Haare hoch und schaute nach meinen Ohren.

Es war relativ eindeutig, warum sie all das taten. Es ging darum, uns mit der Gewalt persönlich zu treffen und einzuschüchtern.

Was danach kam war auch sehr schrecklich. Wir wurden in einen Warteraum gebracht. Jeder alleine. In dem Raum, in dem ich war lag am Boden ein blutverschmiertes T-Shirt. Es war vollgesogen mit Blut. Es war in diesem Moment ein zusätzlicher Horror, da wir nicht wussten, was mit uns in diesem Gefängnis noch alles geschehen würde.

Nach einer Wartezeit in diesem Raum wurde ich gezwungen, mir Blut abnehmen zu lassen, bzw. wurde mir das angedroht. Das war das erste mal, das sie mich so weit hatten, dass ich etwas unterschrieb: Sie wollten glaube ich wissen, ob ich Drogen genommen hätte. War halt alles in Italienisch. Diese Blutabnahme ist mir dann bei diesem so genannten Arzt erspart geblieben.

 

Azzoncao: Das war am 23. Juli?

 

Karsten: Am Montag, den 23.Juli 2001. Danach wurde ich in die Gefängniszelle gebracht, wo ich „Gott sei Dank“ meine Freunde wieder sah. Wir waren eine gemischte Gruppe von sieben Frauen und drei Männern. Und so sahen zumindest wir Männer uns in dieser Zelle wieder. Dort waren auch weitere G8-Gefangene. Ich war fast erleichtert, weil ich dachte wir hätten erst mal alles überstanden. Jetzt hat der Albtraum ein Ende, wir kommen in den normalen Strafvollzug und die Übergriffe hören auf. Das war aber eine Fehleinschätzung.

Im Abstand von 2 bis 3 Stunden und das drei Tage lang sind die Schließer immer wieder in unsere Zelle gekommen und haben irgendwelche Repressalien gegen uns angewendet.

Es war oft dasselbe Muster: Die Schließer kamen rein und bauten sich an der Wand auf. Dann begann einer von ihnen uns zu treten und zu schlagen. Mir hielt z.B. einmal einer der Schließer ein Messer an den Hals und drohte, mir meine Kehle durch zu schneiden. Dann hielt er sein Messer an meine Haare. Das er mir die Haare abschneiden würde war für mich aber glaubwürdiger, als das er mich töten würde. Im Endeffekt machte er beides nicht!

Ständig gab es die Gewalt und Willkür seitens der Schließer. Das war eine schreckliche Zeit.

 

Azzoncao: Wie habt ihr reagiert, wenn die Wärter immer wieder in die Zelle kamen?

 

Karsten: Selbstschutz. Man ging zusammen in eine Ecke. Aber das alles war sehr schwierig. So z.B. in der Nacht, wenn du am Schlafen warst und plötzlich wirst du aus deinem Bett rausgeprügelt. Du hast keine Schuhe an. Das ist total unangenehm. Deine Füße waren ungeschützt. Die Schließer haben ja mit Schuhen nach dir getreten.

 

Azzoncao: Habt ihr eine Art Wachdienst eingeführt?

 

Karsten: Nein. Wir waren sehr überfordert und erschöpft. Und ein Wachdienst hätte auch nichts gebracht. Du konntest ja nichts sehen, also nicht in den Flur sehen. Du bekamst es erst mit, wenn sie in deine Zelle kamen.

 

Azzoncao: Ihr wart also in einer Situation, die euch alle überfordert hat?

 

Karsten: Ja, natürlich. Das war so. Nach drei Tagen sahen wir den Haftrichter. Und ab da hörten die physischen Übergriffe auf. Am vierten Tag kam dann noch die deutsche Botschaft hinzu. Es war uns in diesem Moment jedoch nicht klar, dass es nun keine physischen Übergriffe mehr geben würde. Es war sehr schwer einzuschätzen, wie sich die Situation für uns weiter entwickelt. Es gab z.B. eine sehr absurde Situation, noch bevor die Botschaft, der Anwalt und der Haftrichter da waren, als uns eine Gruppe besuchte: Die gleichen Wärter die uns die ganze Zeit misshandelt hatten kamen in die Zelle mit einigen Zivilisten. Diese behaupteten von der Partei Rifondazione Comunista zu sein. Wir interpretierten das als eine Falle. Im Nachhinein betrachtet war das ein Fehler, weil das eine Chance gewesen wäre, unsere Situation nach draußen zu tragen.

Das war eigentlich das Schlimmste. Es war nicht bekannt, dass wir verhaftet worden waren und was dort im Gefängnis passierte. Das war bei der Scuola Diaz anders. Da gab es eine Öffentlichkeit.

 

Azzoncao: War es nun eine Gruppe von Rifondazione Comunista oder nicht?

 

Karsten: Das ist schwer zu sagen. Wir misstrauten ihnen auf jeden Fall.

 

Azzoncao: Ihr saht es als Falle. Und der Kontakt zur Botschaft?

 

Karsten: Es kam also der Botschafter - auch das war sehr unglücklich. Das Problem war, gehen wir jetzt in die Offensive, oder gehen wir nicht in die Offensive. Die Offensive wäre gewesen, in dieser Situation den Botschafter dazu zu bringen, die Zustände im Knast zu veröffentlichen. Aber wir betrachteten uns weiterhin als Kollektiv und wollten keine Sachen machen, die wir als Gruppe nicht auch gemeinsam tragen können. Es gab unterschiedliche Grade der Traumatisierung. Gerade diese ersten drei Tage. Und wir waren nicht sicher und haben darüber diskutiert, ob wir es aushalten können, unsere Situation zu veröffentlichen. Wir entschieden uns dagegen, weil wir befürchteten, dass dies noch mehr Repressalien nach sich ziehen könnte. Einige waren am persönlichen Limit dessen angekommen, was sie ertragen konnten.

Wir teilten dem Botschafter mit, dass es im Gefängnis Misshandlungen gegeben hat, aber das wir dies erst später, wenn wir draußen sind, öffentlich machen wollten. Das hat nicht funktioniert. Einige Tage später gab der Botschafter in einer Presseerklärung zum Besten, dass es keine Übergriffe im Gefängnis gab. Das war sehr ärgerlich.

 

Azzoncao: War es der Botschafter selber oder ein Botschaftsangestellter?

 

Karsten: Da verblasst meine Erinnerung. Ich glaube es war der Botschafter.

 

Azzoncao: Ihr ward also als drei deutsche Männer in dieser Zelle und getrennt von euren Freundinnen.

 

Karsten: Ja. Wie waren getrennt von den sieben Frauen. Die waren im Frauengefängnis Pontedecimo. Dort gab es übrigens keine Übergriffe.

Zur Zeit unserer Einlieferung waren wir Männer zu sechst in der Zelle. Es kamen nach einigen Tagen noch weitere Verhaftete dazu. Der Höhepunkt waren 10 Gefangene in einer Zelle von 25 Quadratmetern. Alles Deutsche. Es gab noch einen „Kurzgast“. Ein amerikanischer Journalist. Der kam aber nach der ersten Haftprüfung sofort raus. Der ist auch erst später verhaftet worden und hat nichts von den physischen Übergriffen mitbekommen. Die amerikanische Botschaft hat - scheint es - ihre Leute vehement da raus gehauen. Anders kann ich mir das nicht erklären. Das deutsche Außenministerium und Herr Schily haben sich da sehr kooperativ mit den italienischen Repressionsorganen gezeigt und alle Daten, die sie über uns hatten, an die italienische Staatsanwaltschaft weitergegeben.

 

Azzoncao: Wie sah die Zelle aus?

 

Karsten: Ein rechteckiger Raum. Die Betten waren dreistöckig. Da standen drei Dreier-Betten, also insgesamt neun Betten. Dann kam zur Hochphase noch mal ein Einzelbett in die Freifläche dazwischen. Es gab einen Tisch. Abgetrennt eine Toilette mit einer art kleinen Küche. Kein Herd, sondern eine Arbeitsplatte. Alle Räume waren vom Flur aus für die Wächter einsehbar.

 

Azzoncao: Wie war euer Verhältnis zu den sozialen Gefangenen?

 

Karsten: Beim ersten Hofgang nach drei Tagen mussten wir ohne soziale Gefangene raus. Im Hof wurden uns dann aus den Fenstern in den oberen Stockwerken nützliche Gegenstände wie Einmalrasieren, usw. zugeworfen – eine ganz praktische Solidarisierung.

Später haben wir auch immer mit den anderen Zellen auf unserem Flur Sachen getauscht, wenn wir zum Duschen sind, da die Einkaufsmöglichkeiten im Knast natürlich nicht sonderlich gut sind!

Später haben wir den sozialen Gefangenen auch so Sachen gegeben, da wir dank der Solidarität von aussen fast schon etwas privilegiert waren, was unsere finanziellen Mittel anging. Die Solidarität, die uns entgegengebracht worden ist, hat wirklich gut getan!

 

Azzoncao: Wie ging es weiter?

 

Karsten: Nach der physischen Repression setzte die juristische Repression ein. Es gab die Beschlagnahmeliste aus unseren Wohnmobilen. Darauf befanden sich dann Werkzeuge, Küchenutensilien, etc.. Alltagsgegenstände, die man halt in einem Wohnmobil hat, um zu verreisen. Dazu noch Kleidungstücke von uns in schwarzer Farbe.

Einige Tage nach der Haftprüfung erhielten wir die Begründung, warum wir weiterhin inhaftiert blieben. Da zeichneten sich bereits die Bemühungen der Staatsanwaltschaft ab, aus uns eine terroristische Vereinigung zu konstruieren. Sprich, die Staatsanwaltschaft konstruierte einen „Black Bloc“, wohlgemerkt mit einem c am Ende des Wortes Block, dessen ausschließlicher Zweck Verwüstung und Plünderung sei. Wir sollen eine Einheit dieses „Black Bloc“ gewesen sein und hätten Verwüstungen und Plünderungen in der Stadt angerichtet. Das fatale an dieser Konstruktion war, dass dieser „Black Bloc“ aus unabhängig voneinander agierenden Gruppen bestehen sollte. Damit definiert die Staatsanwaltschaft, wer dazugehört.

Beweise für diese Konstruktion und unsere Zugehörigkeit zu diesem „Black Bloc“ gab es nicht. Die Staatsanwaltschaft hatte nur diese Beschlagnahmeliste aufzuweisen. Dort waren die absurdesten Gegenstände aufgelistet, die aber auf dem Papier stärker klangen, als sie in der Realität Halt hatten. Ein Beispiel ist - und das ist fast zum Lachen, wenn es nicht so Ernst gewesen wäre - ein Sack Steine. Wir haben uns die ganze Zeit gefragt, ob sie den in die Autos gepackt haben. Später stellte sich aber heraus, dass dieser Sack Steine ein kleines Säckchen mit Ziersteinen war. So runde, kleine Glasdinger. Die hatte einer von uns als Präsent für seine Mutter in seinem Wohnmobil liegen. Das war der Sack mit Steinen.

So wurden jede Menge Sachen an den Haaren herbeigezogen. Der einzige Beweis für unsere Teilnahme an den Protesten war ein Film von uns, den sie entwickelt hatten.

Wie dem auch sei, die Haftprüfung verlief für uns negativ. Uns wurde auch sehr anders als wir über das Strafmaß erfuhren, was uns treffen könnte. Für eine terroristische Vereinigung ist das Strafmaß in Italien wohl nur zwei Jahre - leg mich nicht auf die Höhe fest, verlässliche Informationen sind im Knast schwer zu bekommen - aber für Plünderung und Verwüstung ist das Strafmaß bei acht bis vierzehn Jahren angesetzt.

Das empfanden wir als sehr bedrohlich. Erst Recht nachdem wir nach zwei Wochen, nach der zweiten Haftprüfung, weiterhin in Untersuchungshaft bleiben mussten. Und da kamen ja auch noch die „erdrückenden Beweise“ dazu, dass sich in einer Jackentasche Feindrehfilter und Streichhölzer befunden hätten. Laut Staatsanwaltschaft ein eindeutiger Beweis dafür, dass wir Molotov-Cocktails hergestellt hätten. Der Richter fand diese Beweisführung sehr plausibel!!! Über unseren Anwalt und auch über das Fernsehen - wir hatten einen Fernseher in der Zelle - bekamen wir mit, dass wir mittlerweile die letzten Inhaftierten der G8-Proteste waren. In den Nachrichten wurden unsere Namen genannt. Wir gingen davon aus, dass der italienische Staat jemand für die Proteste zahlen lassen würde und daher der Verurteilungswille gegen uns sehr hoch war.

 

Azzoncao: Ihr hattet Zugang zu Anwälten?

 

Karsten: Ja, wir hatten Anwälte. Wir hatten Glück. Als wir in der Verhaftungssituation diesen Konvoi bilden mussten, hatten wir die Möglichkeit, mit einem Handy zu telefonieren. Wir waren die einzigen Gefangenen, die diese Möglichkeit hatten. Und es war für uns auch das einzige Mal, dass wir telefonieren konnten. Also Rechte, die man normalerweise hat, so z.B. einmal in der Woche telefonieren zu dürfen, sind uns verweigert worden. Wir haben nicht ein einziges Mal das Telefon gesehen.

Nur durch diese eine Situation bei unserer Verhaftung, dieses eine Telefonat, haben Leute uns einen Anwalt vermittelt, der auch bei der ersten Haftprüfung anwesend war.

 

Azzoncao: Ein italienischer Anwalt?

 

Karsten: Ja, ein italienischer Anwalt. Die anderen Gefangenen in der Zelle hatten bei ihrer ersten Haftprüfung keinen Anwalt. Und es gab Verhaftete aus Leipzig, die auch nach zwei Wochen noch keinen Anwalt hatten. Das hat sich sehr lange gezogen.

 

Azzoncao: Was habt ihr von draußen mitbekommen? Du sprachst von einem Fernseher. Habt ihr Post bekommen?

 

Karsten: Das mit der Post hat uns überrascht. Wir gingen davon aus, dass unsere Post gelesen würde. Eine Postzensur gab es aber anscheinend nicht. Alle Briefe und Postkarten kamen in Echtzeit an. Vermutlich lag es daran, dass die italienischen Behörden überfordert waren. Es gab anscheinend keine Übersetzer für die deutsche Sprache. Die Haftprüfung nach drei Tagen fand z.B. mit einem Übersetzer statt, der nicht in der Lage war zu übersetzen. Er kannte noch nicht einmal die Bedeutung einfacher Worte. Er konnte z.B. das Wort Küche nicht ins italienische übersetzen. Und das ist natürlich nicht unbedeutend, wenn man den Umstand bedenkt, dass uns Küchenmesser als Waffen ausgelegt wurden und nicht als Alltagsgegenstände zur Zubereitung von Mahlzeiten.

 

Azzoncao: Wie lange habt ihr insgesamt eingesessen?

 

Karsten: Die Haft hat insgesamt sechs Wochen gedauert. Es gab nach zwei Wochen eine Haftprüfung. Diese Haftprüfung kann man als Paradestück dieser ganzen juristischen Konstruktion bezeichnen. Es war wie bei Terroristenprozessen. Wir wurden am Morgen aus dem Gefängnis abgeholt. Auf dem Transport zum Gerichtsgebäude wurden uns Handschellen angelegt. In diesen Transportfahrzeugen gab es Zellen mit abschließbaren Türen. Zusätzlich hielt mir ein italienischer Beamter eine Maschinenpistole ins Gesicht. So wurden wir durch die Stadt transportiert. Es war absurd.

Im Gericht angekommen hat man uns Käfige zur Anhörung angedroht. Nach dem Motto, wenn ihr schön brav vor dem Richter aufsteht, kommt ihr auch nicht in den Käfig. Dazu kam es dann aber nicht.

 

Azzoncao: Ihr seid brav aufgestanden?

 

Karsten: Wir sind brav aufgestanden. (lacht)

 

Azzoncao: Also brav deutsch. (lacht) Das wäre doch was gewesen. Wer hat denn schon einmal in einem original-italienischen Terroristenkäfig gesessen?

 

Karsten: Sicher. Aber in einer solchen Situation hast du anderes im Kopf und dein Kampfgeist leidet. Zudem hatten sie tatsächlich nichts gegen uns in der Hand.

 

Azzoncao: Wie alt wart ihr?

 

Karsten: Ich war 31 Jahre alt und einer der Ältesten von uns. Mitte, Ende zwanzig, das war das Durchschnittsalter unserer Gruppe.

Wir haben in ein bestimmtes Raster gepasst. Ungefähr diese Altersgruppe, Zugehörigkeit zu einer gewissen optisch ausmachbaren Szene und Deutsch. Der „Black Bloc“ als deutsches Phänomen. Ach ja, Österreicher waren auch betroffen. Also deutschsprachiger Raum.

 

Azzoncao: Die vier folgenden Wochen Haft waren im Vergleich zu den ersten beiden Wochen relativ unaufgeregt?

 

Karsten: In den vier Wochen manifestierte sich unser Eindruck, dass unsere Haft vielleicht zu einem Dauerzustand wird. Wir fanden uns in den Alltag eines Knastes ein. Eine sehr triste Angelegenheit. Das Leben wird reduziert auf die winzigsten Kleinigkeiten. Man muss sich seinen Tag durchorganisieren, da es dort Nichts gibt. Trotzdem wird einem der Rhythmus von außen auferlegt, durch Duschen, Frühstücken, Hofgang. Und dann manchmal auch Besuch. Das sind dann die Eckpfeiler, die dir gesetzt werden. Und du musst dir überlegen, wie du die Zwischenräume möglichst sinnvoll füllst. Nach drei bis vier Wochen merkte man immer mehr, wie das einen beengt. Wie das Ganze einen ankotzt. Das war sehr bestimmend. Wir fingen an Italienisch zu lernen. Es gab jemand, der in der Schule Italienisch Unterricht gehabt hatte. Der saß bei uns in der Zelle. Und er erklärte sich bereit, Unterricht für uns zu geben.

 

Azzoncao: Wie ging es weiter?

 

Karsten: Irgendwann gab es eine Wendung für uns, an die wir Anfangs auch gar nicht glauben konnten: Unser Anwalt hatte beantragt, die Asservatenkammer zu besichtigen. Also auch die Wohnmobile. Er machte Aufnahmen der Wohnmobile und ist mit diesen Fotos zu dem Richter gegangen und hat sie ihm vorgelegt. Danach wurden wir zu einem Anwaltsgespräch geladen und er war besten Mutes, dass wir aus der Haft entlassen würden. Wir verstanden nicht warum. Aber anscheinend war dies wie dieser ominöse Sack Steine. Die Beamten schienen in der Erfassung der Gegenstände ganz gewisse Signalwörter der Strafverfolgungsbehörden genutzt zu haben. In dem Moment wo die Fotos unseres Wohnmobils auftauchten, samt des aufgepumpten Gummitiers zum Schwimmen, alles was darin lag, war der Richter dazu bereit, über eine Aufhebung der Untersuchungshaft zu verhandeln - bisher wurde die Haft aufrecht gehalten, da wir eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen sollten. Der Richter nahm also mit der Staatsanwaltschaft Kontakt auf und die forderte, dass wir eine Einlassung machen. Das scheint in Italien üblicher zu sein, als bei uns. Das haben wir lange kontrovers diskutiert, ob wir das machen sollen, ob es uns nicht mehr schadet als nützt.

Unser Anwalt hatte einen Deal mit der Staatsanwältin gemacht, dass wir uns zu den beschlagnahmten Gegenständen äußern sollten, sowie Angaben über unseren Aufenthalt in Genova zu machen.

Wir haben uns nach längerer Diskussion dazu entschieden, das zu machen. Auch unsere UnterstützerInnen vom EA in Genova haben uns dazu geraten.

Vier Tage nach der Einlassung ist die Untersuchungshaft aufgehoben worden.

 

Azzoncao: Und das hieß für euch, dass ihr aus der Haft entlassen wurdet und nach Deutschland zurückkehrtet?

 

Karsten: Wir wurden abgeschoben. Wie alles andere war auch dies eine große Show. Wir mussten mit dem Zug fahren. Zu diesem Zweck wurde der Bahnhof von Genova für uns geräumt. Mit einem Polizeireisebus sind wir in die Bahnhofshalle gefahren worden. Die Polizisten bildeten ein Spalier bis zum Bahnsteig, durch das wir laufen mussten. Mit einer Polizeikette war die eine Hälfte des Bahnsteigs abgesperrt. Und da standen und warteten wir bis der Zug kam. Auf der anderen Seite der Polizeikette standen unsere Unterstützer und UnterstützerInnen. Die Polizisten ließen sie nicht zu uns. Es waren viele Freunde und FreundInnen darunter, die wir lange nicht gesehen hatten. Sechs Wochen saßen wir im Knast und wir durften nicht zu ihnen. Dann fuhr der Zug in den Bahnhof ein und wir stiegen hinein. Die Polizisten blieben draußen. Wir gingen dann durch den Zug und begrüßten die Leute. Total absurd.

Der Zug fuhr dann los und auf jedem Bahnsteig in Italien waren Carabinieri positioniert, die aufpassen sollten, dass wir nicht aussteigen. In Verona mussten wir dann umsteigen. Und wieder standen Carabinieri für uns da. Diesmal aber nur zwei. Wir mussten auf den Zug nach Deutschland warten und die Carabinieri begannen unsere Papiere zu überprüfen. Da wurde uns dann wieder anders. Unser Anwalt hatte uns nämlich gesagt, dass die Staatsanwältin nicht glücklich über die Entscheidung des Richters gewesen sei. Die Staatsanwältin war Frau Anna Canepa, die sich in Italien einen Namen mit ihrem harten Vorgehen gegen die Mafia gemacht hatte. In dem Stil war dann auch die ganze Zeit die Konstruktionslinie der Staatsanwaltschaft.

Kaum hatte dieser Zug die österreichische Grenze überquert war Nichts mehr. Das fand ich auch überraschend. Der Zug fuhr bis München und eigentlich hatten wir erwartet, dass dort deutsche Beamte auf uns warten würden. Aber die Tatsache, dass dort nicht ein einziger Uniformierter auf uns wartete und auch nicht Irgendjemand in diesem Bahnhof von uns Notiz nahm, zeigt, meiner Meinung nach, wie wenig Ernst in Deutschland die Anschuldigungen der italienischen Justiz gegen uns genommen wurden.

 

Azzoncao: Was ist aus den Anschuldigungen geworden?

 

Karsten: Das Verfahren lief sehr lange. Es gab ja sehr viel Videoauswertungen in Genova, in deren Folge dann italienische Leute verhaftet worden sind. In unmittelbarer zeitlicher Nähe zum Jahrestag von Genova gab es dann immer wieder Äußerungen der Staatsanwältin, dass demnächst der Prozess gegen die deutschen „Black Blocer“ eröffnet würde. Eingestellt wurde dies Verfahren dann aber so vor drei Jahren. Seitdem haben wir wohl nichts mehr zu befürchten.

 

Azzoncao: Was hat das Ganze mit Euch gemacht?

 

Karsten: Es gab unterschiedliche Grade der Traumatisierung. Das Gefühl des Ausgeliefertseins hat unterschiedliche Sachen mit uns gemacht.

 

Azzoncao: Was stellt Genova 2001 für dich persönlich dar?

 

Karsten: Spätestens seit der Einstellung des Verfahrens fand ich Genova eine sehr interessante Erfahrung für mich persönlich. Mit einem glimpflichen Ausgang. Wobei ich natürlich nicht so weit gehen würde, dass ich sage, so etwas muss man mal haben oder diese Erfahrung gewollt hätte. Ich habe sie nun mal von außen aufgezwungen bekommen und zwar an einem Punkt, wo man gar nicht damit rechnet. Ohne irgendwelche Beweise, fernab des Geschehens.

Diese Willkür fand ich sehr belastend. Diese allgegenwärtige Willkür führte auch dazu, dass man irgendwann an den Punkt kam, zu glauben, dass man für 14 Jahre verurteilt würde.

Es hat lange gebraucht wieder angstfrei auf Demonstrationen zu gehen. Auch hier in Deutschland. Wobei man natürlich sagen muss, dass, wenn man das Demonstrationsgeschehen hier kennt, auch ungefähr einschätzen kann, was passieren und was nicht passieren kann. In Italien haben wir das Ganze unterschätzt.

Zudem kommt die Erkenntnis einer künstlich erzeugten, einer inszenierten Situation in Genova 2001. Im Nachhinein habe ich mir sehr viel Fragen dazu gestellt: Das gewisse Sachen eskalieren konnten, war von staatlicher Seite gewollt. Es gab bestimmte Situationen in Genova, wo die Polizei bewusst nicht eingegriffen hat, trotz der massiven Präsenz in der Stadt, um später mit voller Härte gegen die ganze Globalisierungsbewegung vorzugehen. Die zugelassenen Ereignisse am Freitag waren die Legitimation für all die staatlichen Gewaltexzesse, die darauf folgen sollten. Für mich ist es klar, dass es so gelaufen ist.

 

Azzoncao: Warst du mal wieder in Italien?

 

Karsten: Bisher war ich nicht mehr in Italien. Aber ich überlege, ob ich nicht zum 10 Jahrestag nach Genova fahren sollte. Dies ist so zu sagen ein Baustein in meiner Geschichte, der noch fehlt: Diese Orte noch einmal zu sehen, dieses Gefängnis noch einmal von außen zu sehen. Vielleicht ist dieser Jahrestag auch ein gutes Ereignis, um mein ganz persönliches Zeichen von Widerstand genau an diesem Tag zu setzen. Das ich noch da bin. Das ich noch heute der Meinung bin, dass es damals 2001 richtig war nach Genova zu fahren und gegen das G8-Treffen zu protestieren. Genova war keine Niederlage, sondern ein Erfolg. 300.000 Menschen haben an die G8 vor Ort die Legitimationsfrage gestellt – ein starkes Zeichen!

In Genova zu protestieren hatte leider für so viele Menschen böse Konsequenzen. Nicht nur für uns, die verhaftet wurden. Auch für die, die auf den Straßen von der Polizei verletzt, auch schwer verletzt, wurden.

Genova hat für viele einen sehr großen Stellenwert in der politischen Sozialisation gehabt. Es war für viele eine neue Erfahrung mit solch einem Ausmaß an Repression konfrontiert zu sein.

 

Azzoncao: Vielen Dank für das Interview.

 

 

 

Azzoncao, ein Polit-Cafe ( Juni 2011)

 

alt - http://www.nadir.org/nadir/initiativ/azzoncao
neu - http://lunte.indymedia.org/azzoncao

 

Adresse:

Azzoncao, ein Polit-Cafè

c/o Bahnhof Langendreer

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