Hintergrund: Die Bundesregierung hält
Rechtsextremismus, Linksradikalismus und Islamismus für ein und
dasselbe Problem. Sie lenkt von der größten Bedrohung der
parlamentarischen Demokratie ab: dem neoliberalen Kurs der Koalition.
Die »schwarz-gelbe« Bundesregierung setzt sowohl auf wirtschafts-,
finanz- und sozialpolitischem Gebiet neue Akzente, die bei genauerem
Hinsehen altbekannt erscheinen, als auch im Umgang mit dem
Rechtsextremismus, den sie offenbar als Rand(gruppen)phänomen begreift
und kurzerhand mit dem Linksradikalismus und dem Islamismus
gleichsetzt. Wenn der Koalitionsvertrag die »Aufarbeitung des
NS-Terrors und der SED-Diktatur« im selben Atemzug nennt, fühlt man
sich an die Gleichsetzung von Stalinismus und Hitlerfaschismus durch
Totalitarismustheoretiker im Kalten Krieg erinnert. Daß die
Bundesprogramme gegen den Rechtsextremismus (»Vielfalt tut gut. Jugend
für Vielfalt, Toleranz und Demokratie« sowie »Kompetent für Demokratie
– Beratungsnetzwerke gegen Rechtsextremismus«) mit einem Jahresbudget
von 19 Millionen bzw. fünf Millionen Euro laut Koalitionsvertrag »unter
Berücksichtigung der Bekämpfung linksextremistischer und islamistischer
Bestrebungen« in Projekte gegen Extremismus ganz allgemein umgewandelt
werden sollen, bedeutet einerseits, daß die Gefahr des
Rechtsextremismus für die Demokratie im Sinne der Extremismustheorie
relativiert wird, und andererseits, daß bei stabilem Mittelaufkommen
weniger Aktivitäten dagegen finanziert werden.
Grundirrtümer
Als
der Kalte Krieg während der 50er und frühen 60er Jahre seinen
Gipfelpunkt erreichte, wurden in der Bundesrepublik alle
geistig-politischen Kräfte im Kampf gegen den Kommunismus bzw. den
Marxismus-Leninismus mobilisiert. Was lag näher, als diesen unter dem
Oberbegriff »Totalitarismus« mit dem Nationalsozialismus bzw.
Hitlerfaschismus mehr oder weniger explizit gleichzusetzen? Es gab
keine für das deutsche Bürgertum geeignetere Konzeption, um seine
kampflose Preisgabe der Weimarer Republik als das Resultat einer
doppelten Frontstellung (gegenüber Rechts- und Linksextremisten) zu
entschuldigen, die geistigen Berührungspunkte mit dem deutschen
Faschismus zu verschleiern und die selbstkritische Aufarbeitung der
NS-Zeit durch Neukonturierung des alten Feindbildes
(Kommunisten/Sozialisten) überflüssig zu machen.
Vor allem die
Politikwissenschaftler Uwe Backes und Eckhard Jesse versuchen bereits
seit mehreren Jahrzehnten, die Extremismustheorie durch eine Vielzahl
von Veröffentlichungen populär zu machen und ihr eine über den
staatlichen Sicherheitsapparat, etablierte Bildungseinrichtungen und
die bürgerlichen Parteien wie den sozialdemokratischen Regierungsflügel
hinausreichende Akzeptanz zu verschaffen. Sie legten ihren Arbeiten die
folgende Definition zugrunde: »Der Begriff des politischen Extremismus
soll als Sammelbezeichnung für unterschiedliche politische Gesinnungen
und Bestrebungen fungieren, die sich in der Ablehnung des
demokratischen Verfassungsstaates und seiner fundamentalen Werte und
Spielregeln einig wissen, sei es, daß das Prinzip menschlicher
Fundamentalgleichheit negiert (Rechtsextremismus), sei es, daß der
Gleichheitsgrundsatz auf alle Lebensbereiche ausgedehnt wird und die
Idee der individuellen Freiheit überlagert (Kommunismus), sei es, daß
jede Form von Staatlichkeit als ›repressiv‹ gilt (Anarchismus).« Wer
den Verfassungsstaat – und gerade nicht die Verfassung selbst – als
zentralen Bezugspunkt seiner Extremismusdefinition wählt, zeigt damit
im Grunde nur, wie staatsfixiert er ist, was übrigens zu den
Hauptkennzeichen des Rechtsextremismus in Deutschland, nicht aber des
Linksradikalismus zählt.
Todfeinde wie Faschisten und
Kommunisten befinden sich damit per definitionem »im selben Boot«,
wohingegen ihrer Herkunft, ihren geistigen Wurzeln und ihrer Ideologie
nach engverwandte Strömungen, etwa Deutschnationalismus,
Nationalkonservatismus und Nationalsozialismus, unterschiedlichen
Strukturkategorien zugeordnet werden. Grau- bzw. »Braunzonen«,
ideologische Grenzgänger und inhaltliche Überschneidungen zwischen
(National-)Konservatismus und Rechtsextremismus, wie sie beispielsweise
bei den Themen »Zuwanderung«, »demographischer Wandel« und
»Nationalbewußtsein« zutage treten, werden nicht mehr thematisiert, die
tiefen Gräben zwischen Rechts- und Linksradikalismus zwar keineswegs
ignoriert, ihrer Bedeutung nach jedoch stark relativiert.
Wer
die Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates zum entscheidenden
oder gar zum einzigen Bestimmungsmerkmal des »Extremismus« erklärt,
ignoriert oder vernachlässigt die gesellschaftlichen Ursachen seines
Untersuchungsgegenstandes. Extremismustheoretiker behandeln den
Rechtsextremismus (ebenso wie den Linksradikalismus) primär als einen
Gegner der bestehenden politischen bzw. Staatsordnung, nicht als ein
soziales Phänomen, das mitten in der Gesellschaft wurzelt. Eckhard
Jesse lehnt es sogar strikt ab, die Frage nach den geistigen Hinter-
und Beweggründen für Unterdrückungsmaßnahmen eines totalitären Regimes
überhaupt zu stellen: »Das Opfer totalitärer Mechanismen muß eine
solche Differenzierung – Kommunismus als Deformation einer an sich
guten Idee – als sophistisch, wenn nicht zynisch empfinden, ganz
abgesehen davon, daß Ziele und Mittel vielfach ineinander übergehen.«
Freilich ist die von Jesse verabsolutierte Opferperspektive wenig
geeignet, ein sachliches und fachlich qualifiziertes Urteil zu fällen.
Aus guten Gründen sitzen keine Gewaltopfer (bzw. deren Hinterbliebene),
sondern unabhängige Richter und eben nicht unmittelbar betroffene
Geschworene bzw. Schöffen über mutmaßliche Straftäter zu Gericht. Was
aber im Strafprozeß selbstverständlich ist, nämlich die Herkunft und
Motive eines Angeklagten zu würdigen, also nicht bloß das Resultat der
inkriminierten Handlung, sollte auch eine Grundvoraussetzung für die
wissenschaftliche Bewertung von Parteien, Bewegungen und
Herrschaftssystemen sein.
Versuche von Autoren wie Backes und
Jesse, den Extremismus gemäß der Verfassungsschutzargumentation als
Kampfansage gegenüber einem demokratischen Verfassungsstaat zu
definieren, konnten sich sogar unter den Rahmenbedingungen des Kalten
Krieges nicht vollständig durchsetzen. Umso befremdlicher wirken sie
nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation. So glaubt Jesse, eine
Konvergenz zwischen der Linkspartei, die er als »weiche Spielart des
Extremismus«, und der NPD, die er als »harte Variante des Extremismus«
charakterisiert, in der Tatsache zu erkennen, daß beide Parteien die
Systemfrage stellen. Ausgerechnet Lothar Bisky, früher Vorsitzender der
PDS und heute – gemeinsam mit Oskar Lafontaine – von Die Linke, muß mit
dem Ausspruch »Wir stellen die Systemfrage!« als Bürgerschreck
herhalten, damit Jesse seine gewagte, wenn nicht eher peinlich wirkende
Parallele zwischen Die Linke und NPD zu »belegen« vermag. Jesse
übersieht oder unterschlägt allerdings, daß Linke und Rechte darunter
etwas völlig Verschiedenes verstehen: Während die Linken mit dem
»System« den Kapitalismus und mit dem Stellen der »Systemfrage« die
Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien meinen, ging es
Konzernherren wie Thyssen und Krupp nie besser als unter dem
National»sozialismus«, der mit dem »System«, das er 1933 aus den Angeln
gehoben hatte, die Weimarer Republik der »Novemberverbrecher« meinte.
Dies verdeutlicht die ganze Absurdität der Gleichsetzung von Links- und
Rechtsextremismus: Während jemand durch Sozialisierungsmaßnahmen linker
Revolutionäre aufhört, ein Mitglied der herrschenden Klasse zu sein,
die sie bekämpfen, muß jemand, der für Rechtsextreme einer »falschen«
Rasse angehört, vertrieben oder vergast, ausgebürgert oder »ausgemerzt«
werden.
»Extremismus an der Macht«
Die
Totalitarismustheorie ist, wenn man so will, das auf den »Extremismus
an der Macht« bezogene Pendant zur Extremismustheorie. Sie war zwar
kein Kind des Kalten Krieges – wie häufig behauptet –, sondern wurde
schon in den 20er und 30er Jahren vor dem Hintergrund der
Machtübernahme des italienischen Faschismus (Benito Mussolinis »Marsch
auf Rom«) einerseits und der Stalinisierung Sowjetrußlands andererseits
entwickelt, ihren Hauptwirkungszeitraum bildeten aber die 50er und
frühen 60er Jahre, als die Beziehungen zwischen den westlichen
Demokratien und dem »Ostblock« unter Führung der UdSSR einen Tiefpunkt
erreichten.
Das genannte Theorem bot eine Möglichkeit, die
Mitschuld einflußreicher Gesellschaftskreise an der »Machtergreifung«
des Hitlerfaschismus, genauer: der Machtübergabe an die Nazis, zu
relativieren. Die Weimarer Republik sei, so hieß es, am Zusammenspiel
der Verfassungsfeinde links- und rechtsaußen zugrunde gegangen.
Außerdem diente das Interpretationsmodell während der
Ost-West-Konfrontation und der Restauration in der Bundesrepublik
Deutschland als innenpolitische Waffe gegen die demokratische Linke,
der unterstellt wurde, eine dem »Nationalsozialismus« und dem
Stalinismus ähnliche Herrschaft errichten zu wollen (»Alle Wege des
Marxismus führen nach Moskau« – so ein gegen die SPD gerichtetes
Wahlplakat der CDU aus dem Jahr 1953).
Die
Extremismus-/Totalitarismustheorie klassifiziert zwar alles, erklärt
aber nichts. Sie als »Theorie« zu bezeichnen, ist daher im Grunde ein
pseudowissenschaftlicher Euphemismus. Wenn sie den Extremismus bzw. den
Totalitarismus auf den Begriff zu bringen sucht, kommt statt einer
Definition meist nur eine Addition von Merkmalen heraus.
Politikwissenschaft reduziert sich damit auf bloße Deskription. Das
eigentliche Dilemma der Totalitarismus- wie der Extremismustheorie
besteht darin, um der Akzentuierung partieller Gemeinsamkeiten zwischen
zwei Vergleichsgegenständen – Kommunismus einerseits und
Faschismus/Nationalsozialismus andererseits – willen deren
Wesensunterschiede eskamotieren zu müssen. Zwangsläufig kommen die
zentralen Inhalte der beiden Ideologien gegenüber ihrer Wirkung, ihrem
Absolutheitsanspruch und ihrer Allgegenwart viel zu kurz.
Gemeinsamkeiten
zwischen beiden Regimen kann – im wahrsten Sinne des Wortes – jedes
Kind erkennen: Man muß ihm nur Bilder von Massenaufmärschen und
Militärparaden, die Insignien des Führerkults, Machtrituale oder
Uniformen paramilitärischer Verbände zeigen. Um die wesentlichen
Unterschiede zu erkennen, bedarf es hingegen wissenschaftlicher
Methoden und analytischer Fähigkeiten. Den entscheidenden Unterschied
zwischen Links- und Rechtsextremismus ignorieren Totalitarismus- bzw.
Extremismustheorien: »Der Rechtsextremismus strebt die Beseitigung der
Demokratie, der Sozialismus jedoch die Abschaffung des Kapitalismus
an«, wie der Berliner Soziologe Richard Stöss bemerkt. Er
schlußfolgert, daß der Rechtsextremismus prinzipiell, also von seiner
Idee her und den Zielen nach antidemokratisch, der Sozialismus aber nur
dann gegen die Demokratie gerichtet sei, wenn er (im Sinne einer
»Diktatur des Proletariats« oder des Politbüros einer Kommunistischen
Partei) mißbraucht oder pervertiert werde.
1989 – Beweis oder Widerlegung?
Zwar
sahen die Vertreter der Totalitarismustheorie im Niedergang des
osteuropäischen Staatssozialismus einen Triumph ihres Konzepts, das
wegen seiner Übernahme durch sich aufgrund der veränderten
Kräfteverhältnisse nach rechts wendender Linksintellektueller eine
gewisse Aufwertung erfuhr. Gleichwohl erwiesen sich der Berliner
Mauerfall und seine Folgen geradezu als Waterloo für die Extremismus-
und Totalitarismustheorie, wurden diese durch den friedlichen Verlauf
des Systemwechsels doch überzeugend widerlegt. Entgegen ihrer
Kernbotschaft sind Kommunismus und Faschismus nicht nur ganz
unterschiedlich – durch eine soziale Revolution in Rußland, aber die
freiwillige Übergabe der Regierungsgeschäfte an Mussolini und Hitler in
Deutschland bzw. Italien – an die Macht gelangt, sondern haben diese
auch ganz unterschiedlich wieder verloren: Während die »rechte Spielart
des Totalitarismus« 1945 ein durch ihren barbarischen Angriffs-,
Eroberungs- und Vernichtungskrieg zerstörtes Europa hinterließ, trat
die »linke Variante des Totalitarismus« 1989/90 trotz der Verfügung
über ein riesiges (Atom-)Waffenpotential ab, ohne den geringsten
militärischen Widerstand zu leisten, wenn man von Rumänien absieht.
Wer
die DDR als »zweite deutsche Diktatur« bezeichnet, sie mehr oder
weniger offen mit dem sogenannten Dritten Reich gleichsetzt und Erich
Honecker in die Nähe Adolf Hitlers rückt, verharmlost damit nicht bloß
den Wilhelminismus, sondern auch den deutschen Faschismus. Wiederum ist
entlarvend, was da auf welche Art miteinander verglichen wird. Man kann
unter dem Oberbegriff »Krankheiten« auch Hautkrebs und Hühneraugen
miteinander vergleichen; dies wird aber kein seriöser Mediziner tun.
Vergleiche, die formale Ähnlichkeiten von Herrschaftsregimen
überbewerten und inhaltliche Gegensätze herunterspielen, sind
interessengeleitet und tragen kaum etwas zur Klärung von wichtigen
Sachverhalten und Zusammenhängen bei.
Nach der Zäsur 1989/90,
welche die Totalitarismustheorie historisch falsifiziert und in der
Praxis widerlegt hatte, erfuhr diese in neuem Gewand eine fragwürdige
Wiederbelebung. Extremismus- und Totalitarismustheoretiker, deren
wissenschaftliche Reputation damals aufgrund des schwindenden
politischen Gebrauchswerts ihres Ansatzes gegen Null tendierte,
entwickelten – begünstigt durch Erfolge rechtspopulistischer
Gruppierungen und Terroranschläge islamistischer Fundamentalisten – die
Populismus-, Fundamentalismus- und Terrorismustheorie quasi als
politisches Substrat für die Extremismus- und Totalitarismustheorie,
ohne ihr mehr inhaltliche Substanz zu verleihen. In der
Terrorismushysterie nach den Anschlägen am 11. September 2001 lag es
nahe und fiel es ihnen leicht, das Extremismus- bzw.
Totalitarismuskonzept auf den islamischen Fundamentalismus anzuwenden.
Während Eckhard Jesse seinerzeit eine »Übertragung auf ferne
Kulturkreise« empfahl, um der Extremismus- und Totalitarismustheorie
neues Leben einzuhauchen, erklärte Armin Pfahl-Traughber, damals
wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundesamt für Verfassungsschutz, den
Extremismus zur »politische(n) Variante des Fundamentalismus«, wodurch
der terminologische Bezug zum Islamismus hergestellt und man wieder auf
der Höhe der Zeit war.
Ruf nach starkem Staat
So
wenig originell die Ideen von Backes, Jesse und Co. anmuten, so mächtig
sind die hinter ihnen stehenden Interessen. Während sich das
bürgerliche Lager mit ihrer Hilfe als »demokratische Mitte« über alle
seine Widersacher fast nach Art einer Lichtgestalt erhebt und die
staatlichen Sicherheitsorgane ihre fortdauernde Existenzberechtigung
nachweisen und Personal- wie Sachmittelforderungen begründen können,
werden linke Kritiker des kapitalistischen Wirtschafts- bzw.
Gesellschaftssystems und undemokratischer Praktiken seines Staates in
geradezu perfider Weise dadurch delegitimiert, daß man sie auf eine
Stufe mit ihren Hauptgegnern, religiösen Fanatikern, Rechtsterroristen
und Faschisten stellt.
Die beliebteste, aber leicht
durchschaubare Schutzbehauptung der Extremismus- und
Totalitarismustheoretiker lautet, man setze so unterschiedliche Systeme
wie den Nationalsozialismus und den Kommunismus gar nicht gleich,
sondern vergleiche sie nur, was schließlich erlaubt sein müsse.
Natürlich darf man Äpfel mit Birnen vergleichen, denn es handelt sich
hierbei um ganz ähnliches Obst. Aber wer den NPD-Vorsitzenden Udo Voigt
mit dem Linkspartei-Vorsitzenden Lothar Bisky vergleicht, suggeriert
zumindest unterschwellig, daß beide Politiker und Parteien
gleichzusetzen seien, denn sonst müßte er auch mal Bisky mit dem
SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel und den CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer
mit Voigt vergleichen, was mit Sicherheit nie passiert
Was sich
mit dem Titel »Totalitarismustheorie« schmückt, ist pure Ideologie,
wenn sie das Ziel verfolgt, Sozialismus und Kommunismus durch
Gleichsetzung mit dem (Hitler-)Faschismus zu diskreditieren. Dagegen
entlastet sie den letzteren, indem ihm das negative
Alleinstellungsmerkmal des politischen Verbrechertums genommen und
seine Terrorherrschaft relativiert bzw. verharmlost wird. Völlig
unbeachtet bleibt jener Wirtschaftstotalitarismus, den Neoliberalismus
und Marktradikalismus implizieren, was man – wenngleich meines
Erachtens nur sehr vage und mißverständlich – als »Extremismus der
Mitte« charakterisieren kann.
Extremismus- und
Totalitarismustheorien kaschieren, daß die parlamentarische Demokratie
so gut wie nie von den politischen Rändern, sondern erheblich häufiger
von Eliten bedroht wird, die ihre Privilegien durch Massenproteste
gefährdet sehen und ihre Gegner als »Populisten«, »Fundamentalisten«
und »Terroristen« beschimpfen, um sie bei unentschiedenen Dritten in
Mißkredit zu bringen. Extremismus- und Totalitarismustheorien erklären
absolut nichts, vernebeln vielmehr alles, was zu kennen wichtig ist, um
die genannten Phänomene mit Erfolg bekämpfen zu können: die
sozialökonomischen Entstehungsursachen, das Wesen und die Wurzeln von
Rechtsextremismus, Faschismus und (gewalttätigem) Neonazismus. Selbst
politische Ziele und Motive der Personen, die als »Extremisten« oder
»Totalitaristen« etikettiert werden, bleiben vage, wenn vorrangig die
Mittel, deren sie sich bedienen, für einen Vergleich herangezogen
werden, der die Gleichsetzung ansonsten völlig unterschiedlicher, ja
gegensätzlicher Akteursgruppen bezweckt. Entscheidend ist letztlich
immer, warum eine politische Strömung entsteht, welche Interessen sie
vertritt und wogegen sie angeht bzw. aufbegehrt. Wie sie ihre Ziele zu
erreichen sucht, ist keineswegs irrelevant, wird aber maßgeblich davon
beeinflußt.
So wenig die Extremismustheorie eine Analyse des
Rechtsextremismus ermöglicht, so wenig verfügen ihre Vertreter über
eine geeignete Strategie, ihn zu bekämpfen. Sie setzen im wesentlichen
auf den Staat, genauer: einen starken Staat in Form einer »wehrhaften
Demokratie«, die rechte und linke Extremisten nicht gleich ausschalten,
aber aus dem politischen Machtzentrum der Gesellschaft heraushalten
soll. Wer – wie es die Extremismustheorie verlangt – nach zwei Seiten
zugleich schaut, haut nie gezielt und trifft keinen Gegner. Wer
angeblich in gleicher Weise nach links- und rechtsaußen starrt,
verliert die Entwicklung in der politischen Mitte als mögliche
Hauptbedrohung für die Demokratie zwangsläufig aus dem Blick. Dies gilt
besonders für Anhänger der Extremismustheorie, die zwar von einer
»Gemeinsamkeit der Demokraten« sprechen, sie aber in der Praxis dadurch
hintertreiben, daß sie Linke als potentielle Verbündete ausgrenzen.
Prof.
Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität
zu Köln. Zuletzt sind von ihm die Bücher »Rechtspopulismus, Arbeitswelt
und Armut« sowie »Armut in einem reichen Land« erschienen